Wilhelm Kühn, Walter Kühn links vor seinem Vater, Karl Gutjahr rechts
„1868. Den 25. Dec. hatt der Wilhelm die neue Thurmuhr zu Schloßvippach aufgestellt“
Eine Hommage mit fiktiven Momenten an Christian Friedrich Wilhelm Kühn
(07.11.1848 Gräfenroda – 01.07.1919 ebenda)
anlässlich seines 175. Geburtstages.
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„Denn etwa fünfzig Jahre bleibt der Name
vorzüglicher Menschen in der Erinnerung des Volks,
weiterhin verschwindet er oder er wird märchenhaft.“
(J. W. v. Goethe, [1749 – 1832], aus: Wilhelm Meisters Wanderjahre).
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1868 – Schloßvippach – ein Dorf, gelegen im fruchtbaren Thüringer Becken mit einem ehemaligen Wasserschloss und einem Bergfried. Eintausend Einwohner, vorwiegend Bauern, leben hier und verdingen sich als Landwirte.
Nehmen wir an, es ist ein herrlicher Wintertag. Der Tag nach dem Heiligen Abend ist für die meisten Menschen ein Feiertag, der ganz im Sinne des Weihnachtsfestes begangen wird.
Jedoch nicht bei den Kühns: Wilhelm Kühn, ein 20-jähriger junger Mann kommt mit der Pferdekutsche und einem Planwagen von Gräfenroda hierher. Auf dem Kutschbock sitzt Karl Abendroth, der eines der Fuhrgeschäfte im Ort betreibt. Den Vertrag über den Einbau einer Uhr in das Rathaus des Dorfes Flüsschen „Vippach“ hat Kühn jun. wohlbehütet in seiner Tasche. Ihn begleiten zwei Gesellen, und sein etwa 62-jähriger Vater Friedrich. Wilhelm hatte vor fünf Jahren seine Lehre als Schlosser bei seinem Onkel Heinrich in Suhl begonnen; nun darf er zum Ersten Mal als Turmuhrenbauer sein Handwerk ausüben.
Die Depesche der Deutschen Post kam beim Gemeindeoberhaupt rechtzeitig an. Er empfängt die Handwerkerelite der Turmuhrenmacherzunft aus dem kleinen, aber aufstrebenden Ort an der Wilden Gera. Das Uhrwerk hat die beschwerliche Fahrt von dort nach hier gut überstanden. Handgemachte Präzisionsarbeit aus der Kühnschen Werkstatt.
Wilhelm Kühn darf die Leitung des Einbaus übernehmen. Es wird mit den Materialien Eisen und Metall gerichtet, mit geschickten Handwerkerhänden das Produkt von filigraner Feinheit präzisiert. Zuletzt werden das Firmenschild und vor allem die Nummerierung des Uhrwerks angebracht, so wie es schon Wilhelms Vater, Friedrich Kühn, getan hatte: Dieses Werk bekommt die Nummer 71.
Nach dem Einbau des Uhrwerkes wird in der warmen Feststube des Rathauses, das erst 1841, also vor 27 Jahren, gebaut wurde, eine Dankesfeier zelebriert.
Nun erklingen Musikstücke des Komponisten Johann Immanuel Müller, der hier geboren wurde. Der 19-jährige Maler Karl Buchholz ist aus Weimar gekommen. Er besucht seinen Geburtsort und fachsimpelt mit dem gleichaltrigen Wilhelm über Kunst der populären Weimarer Schule und über die Kunst, handgefertigte Zeitmesser herzustellen – beide junge Meister ihres Faches! Im Gasthaus „Zur Sonne“ nehmen die Gesellschaften Logie. Dort gibt es noch einmal ein gemütliches Beisammensein unter Männern. Wilhelm erzählt dem Künstler Karl von einem schrecklichen Erlebnis: Er musste vor zwei Jahren, 1866, in ein schreckliches Gemetzel ziehen. Der Deutsch-Deutsche Krieg verlangte nach jungen Soldaten! Aus Langensalza ist er Gott sei Dank wohlbehalten wieder zu Hause angekommen! Das möchte er nicht noch einmal erleben! …Karl überreicht ihm eine Skizze: Eine friedliche Landschaft „Frühling in Oberweimar“. (Später wird dieses Werk in der Berliner Alten Nationalgalerie zu bewundern sein …). Ehe man sich am nächsten Morgen verabschiedet, wird noch einmal das Uhrwerk im Rathaus besichtigt. Der Maler wird zu Fuß nach Oberweimar wandern; der Turmuhrbauer nimmt im Pferdewagen Platz. So oder so, es sind beschwerliche Wege zurück, die beide gehen müssen. Sie werden sich nie wiedersehen. Hier endet die fingierte Erzählung.
Blättern wir nun in der realen Familien- und Firmengeschichte: Friedrich Kühn hat in seinem Tagebuch notiert: „1870. Den 15. Dec. in Schloßvippach gewesen und den Rest der Zahlung von 50 Thln. erhalten und 2 Thl. für Revision auf 2 Jahre“. Hier war er mit Sicherheit ohne seinen Sohn Wilhelm, denn der musste im Sommer 1870 wieder zum Militär. Der Deutsch-Französische Krieg braucht Landesverteidiger! Von Bailly bei Versailles kommt er ein Jahr später unversehrt zurück! Nun kann Wilhelm durchweg in seinem Beruf tätig sein, seine Berufung unter Beweis stellen. Wilhelm arbeitet unter der Geschäftsführung seines Vaters Friedrich bis 1888. Nach dessen Tod führt die Witwe und Mutter Johanne Eleonore testamentarisch das Geschäft. Inzwischen hat Sohn Wilhelm geheiratet. Agathe, geb. Griebel, ist seit 1874 seine Ehefrau.
Neun Jahre später wird das vierte Kind der Kühns geboren: Alfred Walter, einer der Urenkel des Gründers Heinrich Kühn. (Ab dem Jahr 1919 wird er den Betrieb bis zu seinem Tod 1946 lenken und leiten.)
Die Aufträge florieren. Nicht nur Uhren verschiedener Arten werden gebaut, repariert und gewartet. Schlosser sind bekanntlich geschickte und erfinderische Handwerker, so entwickelt Karl Gutjahr, einer der Angestellten bei Kühns, 1872 eine praktische Kartoffelreibemaschine. Auszeichnungen auf den verschiedenen Industrie- und Handwerkermessen und Ausstellungen bspw. in Gotha und Erfurt mit Vergabe von Gold- und Silbermedaillen werden der Firma zuteil.
Wilhelm ist einer der angesehenen Handwerker in Gräfenroda und Umgebung. Wie nahezu in jeder Familie wurde auch bei den Kühns Landwirtschaft betrieben, als Nebeneinkünfte wichtig. Wilhelm kämpfte beispielsweise vehement gegen die dubiosen Grundstücksenteignungen der Äcker und Wiesen der Gräfenrodaer durch die Eisenbahngesellschaften vor Beginn des Baus des Brandleitetunnels 1881.
Als das Bauwerk und auch die Eisenbahnstrecke Erfurt-Ritschenhausen drei Jahre später fertiggestellt waren, profitierten dann aber die Handwerker und Gewerbetreibenden der Glas-, Holz- und Porzellanbranchen und eben auch die Kühns: Uhren konnten so besser und schneller als Frachtgüter an die Auftraggeber gefördert werden. Das war zur Zeit seiner Vorfahren noch Utopie.
Nun, Wilhelm ist 1888 vierzig Jahre alt und offizieller Chef der Firma „Wilhelm Kühn vorm. Friedrich Kühn und Sohn. Turmuhrenfabrik und mechanische Werkstatt Gräfenroda in Thüringen.“ Das Geschäft floriert. Aufträge kommen von überall zu den Turmuhrbauern in den damals aufstrebenden Ort an der Wilden Gera.
Wirkliche Meisterleistungen in jeder Hinsicht! Auszeichnungen, Honoritäten für ausgezeichnete Arbeiten wurden vergeben: So 1889 zur Gesamtausstellung der Erzeugnisse Thüringer Gewerbefleißes in Erfurt, wo die Kühns mit einer silbernen Medaille geehrt wurden. Ein Patent erhielt Wilhelms Firma auf eine automatische Rundteilmaschine für Glasinstrumente und u. a. auf einen automatischen Turmuhrenaufzug. Wer an der Landesgewerbeausstellung in Gotha teilnahm, gehörte zu den Besten der Branche. Im Statut aus dem Jahr 1904 des Vereins der Turmuhrenhersteller Deutschlands finden wir den Namen Wilhelm Kühn; in diesem Gremium ist er Vorstandmitglied und reiht sich nicht nur ehrenamtlich ein in die Riege der großen Fabrikanten.
Im neuen Jahrtausend, 1909 wird am Wohn- und Geschäftshaus angebaut und die Firma expandierte. Doch der 31-jährige Walter, Sohn von Wilhelm, Ingenieur und Turmuhrfabrikant nun in vierter Generation, musste 1914 für den deutschen Kaiser den Schlosseranzug gegen einen Soldatenrock tauschen. Sechs Monate nach seiner Einberufung wurde Erika geboren, die Enkelin von Wilhelm Kühn.
Walter kommt gesund 1918 nach Hause. Der Vater hatte seine Tochter als Vierjährige das erste Mal gesehen! Er übernimmt 1919 das Geschäft nach dem Tod seines Vaters Wilhelm, führt es mit Mut, Geschick und Weitsicht durch die kommenden Jahre wirtschaftlicher Auf- und Abschwünge!
Nun bis hierher Einblicke in die Vita, dessen, der im Tagebuch seines Vaters das erste Mal 1868, also vor 155 Jahren, als Turmuhrbauer erwähnt wird! Als er die Uhr in das Rathaus von Schloßvippach einbaute.
Fazit: In vier Generationen war die Turmuhrenfabrik in Familienbesitz. Über 500 Uhren wurden hergestellt; von denen ticken heute noch ca. 200 Zeitmesser nach den ursprünglichen Kühnschen Bauweisen. Uhrwerke, wie das in der St.-Johannis-Kirche Neudietendorf, in der St.-Wenzel-Kirche Thörey, in der St.-Trinitatis-Kirche Molsdorf läuten und zeigen die Uhrzeit seit über 100 Jahren an! Einige sind unauffindbar, so wie das in der Kirche der Brüdergemeinde in Neudietendorf und einige in Gotha und Arnstadt.
Ich erinnere mich, dass ich auf meinem täglichen Weg zur Gräfenrodaer Oberschule spontan zum Kirchturm geschaut habe, wenn die Glocken läuteten, wenn der große Zeiger zur Eile mahnte, den Unterricht nicht zu verpassen. Manche meiner Mitschüler aus dem Unterdorf haben sicher die Uhr im Giebeldach des Kühnschen Wohnhauses in der Bahnhofstraße 18 bemerkt. Dieses Uhrwerk hat Wilhelm 1911 eingebaut; es ist heute noch nach 112 Jahren funktionstüchtig! Das einst schmucke Wohn-und Geschäftshaus dagegen in einem sanierungsbedürftigen Zustand!
Nun, die Zeit hat das getan, was sie kann: sie ist vergangen und vorangeschritten. Mit ihrem Voranschreiten veränderten sich nicht nur die Fertigungstechniken sondern auch die Techniken der Kommunikationen rasant bis in unsere Zeit hinein. So haben wir drei Autoren des unten angegebenen Buches, nicht wie die Kühns mit Feder und Tinte auf Papier, handschriftlich korrespondiert. Wir haben unsere Anfragen nach Uhrwerken aus den Kühnschen Werkstätten telefonisch, per elektronischer Nachrichtenübertragungen und vor Ort an Auskunftsgeber, Uhrenthusiasten, Zeitzeugen gestellt.
So konnten wir, auch mit Hilfe auskunftsfreudiger Befragter allein 148 Zeitmesser ausfindig machen, die im Zeitraum der Firmenleitung von Wilhelm Kühn fabriziert, repariert und gewartet wurden für Orte im mitteldeutschen Raum und an-derswo! So oder so, manches Rätsel um die Uhrwerke konnten wir drei Autoren dennoch nicht lösen!
Warum konnte das Uhrwerk in Bad Sulza nicht so gerettet werden, dass es heute noch im Turm der St.-Mauritius-Kirche schlägt nach den (Ur)-Kühnschen Bauweisen? Es wäre 124 Jahre geworden, es hätte sich mit eingereiht in die Zeitmesser der über 100-jährigen. Uhrenthusiast Holger Brandt aus Dornburg-Camburg hat sich ihrer angenommen, sie über mehrere Monate in 2013 restauriert, sie ist in seinem Privatbesitz und steht als Dauerleihgabe im Heimatmuseum in Gräfenroda.
Warum wird das Uhrwerk im Giebel des Wohnhauses der Kühns, das Wilhelm 1911 eingebaut hat, nicht regelmäßig aufgezogen. Das würde nicht nur dem inzwischen 112-jährigen Zeitmesser und seinem Jubilar, dem dieser Text gewidmet ist, sondern auch seinem Heimatort alle Ehre erweisen.
Vielleicht könnten diese Wortgefüge als Hommage an eine repräsentative Handwerkerfamilie Anreiz sein, am Wohnhaus in Form einer Gedächtnistafel an Heinrich, Friedrich, Wilhelm, Walter Kühn und ihre Familien- und Firmengeschichte erinnern.
Text: Rotraut Greßler
Quellen: Chronik von Schloßvippach.
Greßler, R./Schwientek, U./ Siefert, H.: Kühnsche Turmuhren aus Gräfenroda.
Eine Chronik mit Bestandsaufnahme von 1816 bis 1972. Mit über 700 Fotos, überwiegend farbig.
227 Seiten. Waltershausen, Gräfenroda 2016.
www.sagestreffend.de